Das Internet stellt nicht nur eine Ansammlung von Hard- und Software dar, sondern hat durch neue Kommunikationsformen eine eigene ,,virtuelle`` Kultur entwickelt und das Entstehen ,,virtueller`` Gemeinschaften begünstigt, die einige Unterschiede zu ,,realen`` sozialen Beziehungen aufweisen. Die Begriffe ,,virtuell`` und ,,real`` sind sicherlich nicht exakt, werden aber im folgenden in Anlehnung an die verwendete Literatur ([40], [22]) zur Unterscheidung zwischen der computervermittelten Kommunikation (in der englischsprachigen Literatur mit Computer Mediated Communication (CMC) bezeichnet) und traditionellen Kommunikationsformen benutzt.
Was ist so neu an dieser Art zu kommunizieren? Wie unterscheidet sich die Kommunikation über Computer und Datenleitungen von persönlichen Treffen (face-to-face) oder Telefon/Fax/Brief?
Folgende Merkmale sollen dies deutlich machen:
Dieser Aspekt kennzeichnet einen wesentlichen Unterschied zwischen CMC und den bisherigen Kommunikationsformen wie Brief, Fax und Telefon, die in der Regel nur der Kommunikation zwischen zwei Partnern dienen. Die Internet-Dienste NetNews und IRC erlauben dagegen die Kommunikation mit einer praktisch unbegrenzten Zahl von Partnern. Dies ermöglicht Diskussionen und die Bildung von Gemeinschaften, wie es sonst nur möglich ist, wenn alle Kommunikationspartner zur gleichen Zeit am gleichen Ort präsent sind. CMC entspricht unter diesem Gesichtspunkt also am ehesten der face-to-face-Kommunikation, was auch für die NetNews aufgrund der geringen Verzögerung noch gilt. Zwar gibt es mit Telefon-,,Partylines`` oder CB-Funk auch Parallelen im ,,realen`` Leben (für die deshalb auch einige der folgenden Aspekte gelten), doch dürften diese aufgrund höherer Kosten und einiger anderer Nachteile gesellschaftlich nicht so relevant sein.
Während bei Telefon, Fax und Brief immer eine Zieladresse angegeben werden muß, werden die Kommunikationspartner bei NetNews und IRC über gemeinsame Interessen bestimmt. In der Regel sind deshalb bei CMC die Partner unbekannt, während private Telefongespräche normalerweise zwischen Partnern geführt werden, die sich bereits kennen. Der Vorgang ,,erst treffen, dann kennenlernen`` wird so umgekehrt, wobei das ,,Treffen`` bei CMC meist wegfällt.
Größere Entfernungen beeinflussen nicht die Art der Kommunikation. Während niemand auf die Idee käme, häufig längere private Telefongespräche z.B. nach Australien zu führen, spielt der Aufenthaltsort des Kommunikationspartners im Internet keine Rolle. Beim Telefon beeinflußt dagegen ein entfernungsabhängiger Tarif das Kommunikationsverhalten, so daß Häufigkeit und Dauer der Kommunikation von rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten bestimmt werden. Bei Briefen ist der Kostenaspekt zwar nicht so deutlich (zumindest innerhalb Europas gilt der gleiche Tarif), hier erschwert aber eine entfernungsabhängige Laufzeit einen direkten Gedankenaustausch und eine intensive Kommunikation. Bei E-Mail z.B. ist dies möglich. Zudem ist die Nutzung der Internet-Kommunikationsdienste ohnehin für einen großen Teil der Anwender kostenlos oder mit sehr geringen Kosten verbunden, so daß die Kommunikation nicht behindert wird.
Zwar ähnelt das Kommunikationsverhalten bei CMC einer ,,realen`` Unterhaltung, die übertragbare Information ist aber fast immer auf Text beschränkt. Während sonst Gestik, Mimik und Stimmlage die verbale Kommunikation begleiten, haben sich im Internet Ersatzmechanismen entwickelt, mit denen dieser Mangel kompensiert werden soll (Emoticons bzw. Smilies, z.B. :-) (Kopf nach links neigen!)). Ebenso ist bei einem face-to-face-Kontakt der erste Eindruck des Partners von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf. Das Interesse, den Kontakt zu vertiefen, wird so oft von Äußerlichkeiten bestimmt. Bei CMC dagegen sind Merkmale wie Aussehen, sozialer Status, Alter, Rasse, Geschlecht nicht sofort sichtbar.
M. Hauben hat in ,,The Net and Netizens: The Impact the Net has on People's Lives``[22] Eindrücke und Erfahrungen von Netzteilnehmern gesammelt, aus denen hervorgeht, daß das Kommunikationsverhalten durch die oben genannten Merkmale beeinflußt wird (siehe dazu auch [37]).
Durch das Fehlen des sozialen Umfelds, das normalerweise beim Umgang mit Fremden eine gewisse Scheu und Zurückhaltung erzeugt, ist CMC oft durch eine erstaunliche Offenheit geprägt. Beispielsweise ist die Anrede ,,Sie``, die sonst für eine gewisse Distanz sorgt, im Umgang der deutschen Netzteilnehmer völlig unüblich, so daß der erste Kontakt einiges einfacher ist.
Hauben hat den Eindruck, daß Gefühle viel deutlicher zum Ausdruck gebracht werden, als man es im ,,realen`` Leben im Kontakt mit Unbekannten tun würde. Er berichtet von tiefen Freundschaften, und sogar Ehepaare sollen sich schon über das Netz kennen- und liebengelernt haben.
Im Sicherheitsgefühl der räumlichen Distanz zeichnen sich einige allerdings auch durch eine gesteigerte Aggressivität aus, die zu feindseligen und beleidigenden Wortgefechten führt. Dieses ,,Flaming`` wird nicht gerne gesehen, eigens für diesen Zweck wurde eine ,,Gummizelle`` (Newsgroup alt.flame bzw. de.alt.flame) eingerichtet.
Die Anonymität der Kommunikationspartner führt zu noch ausgefalleneren Auswüchsen. Getreu dem Motto ,,On the net, no one knows you are a dog`` wird besonders IRC für Rollenspiele benutzt, um einfach mal in eine völlig andere Rolle zu schlüpfen. Recht beliebt ist dabei das ,,gender-switching``, bei dem man als Mann einmal feststellen kann, wie man als Frau angesprochen wird oder umgekehrt.
Marc A. Smith hat in seiner Arbeit ,,Voices from the WELL: The Logic of the Virtual Commons`` [40] besondere Merkmale virtueller Gruppen und Gemeinschaften am Beispiel eines bekannten Konferenzsystems aus dem Raum San Francisco untersucht. ,,The WELL`` (Whole Earth 'Lectronic Link) hat eine Netzkultur entwickelt, die Parallelen zum Usenet oder Kommunikationsmedien wie IRC aufweist, so daß die Ergebnisse auf das Internet übertragbar sind.
Das wichtigste Merkmal ist die unterschiedliche Entstehung sozialer Gruppen und Gemeinschaften. Traditionell werden Gruppen in der Regel durch die räumliche Nähe und ein gemeinsames soziales Umfeld bestimmt. Bekannte und Freunde findet man üblicherweise in der Nachbarschaft, in der Schule, im Studium und Beruf.
Computer-Konferenzsysteme, in denen die Diskussionen nach Themengebieten strukturiert sind, erlauben dagegen die Bildung von Gemeinschaften aufgrund gemeinsamer Interessen. Wer sich über ein bestimmtes Thema unterhalten möchte, findet sofort in der entsprechenden Gruppe Gleichgesinnte und muß nicht in seinem räumlichen Umfeld auf die Suche gehen. Man kann eben nicht das Telefon in die Hand zu nehmen und sich mit einer Gruppe von Leuten verbinden zu lassen, die sich z.B. für Jazz interessieren.
Eine erstaunliche Erfahrung ist der hohe Idealismus und die große Hilfsbereitschaft, die oft (noch, siehe Kapitel 6) anzutreffen ist.
Angesichts der Tatsache, daß es inzwischen sogar Informationsbroker gibt, die Informationen verkaufen, verwundert die Hilfsbereitschaft, mit der in den verschiedenen Diskussionsgruppen auf Fragen zu allen möglichen Themen eingegangen wird, zumal der Zeitaufwand oft nicht unerheblich ist. Auch in solchen Gemeinschaften scheint die Anerkennung effektivste Form der Belohnung zu sein. Information wird nicht mit Geld bezahlt, sondern mit Ansehen und Status.
Aber nicht nur private Gruppen können mit Hilfe von CMC kommunizieren, auch Telearbeit wird dadurch ermöglicht. Mit den Schlagworten Groupware und Computer- Supported-Cooperative-Working (CSCW) wird der Trend beschrieben, Teamarbeit auch dann zu ermöglichen, wenn die Mitglieder weit voneinander entfernt sind. Ganz neue Formen der Zusammenarbeit werden dadurch möglich, in dem man z.B. gemeinsam an einem Artikel schreibt (WYSIWIS, what you see is what I see) oder gemeinsam Software entwickelt, was z.B. mit dem Betriebssystem Linux eindrucksvoll demonstriert wurde.
Normalerweise sind für das Funktionieren einer Gemeinschaft oder Organisation Regeln notwendig, die das Verhalten zwischen den einzelnen Gemeinschaftsmitgliedern bestimmen. Darüber hinaus muß es ein System von Maßnahmen und Sanktionen geben, um diese Regeln durchsetzen zu können.
Im Internet treten die einzelnen Netzteilnehmer in verschiedenen Bereichen miteinander in Kontakt (z.B. NetNews, IRC), so daß sich auch hier ein allgemein akzeptierter Satz von Regeln entwickelt hat, die sogenannte Netiquette. Doch sind diese Regeln so weit gesteckt, daß sich die Netzgemeinde ständig im Konflikt zwischen maximaler individueller Freiheit und unangemessenem Verhalten befindet. Die Frage, welches Verhalten unangemessen ist oder was toleriert werden sollte, wird heftig diskutiert. Zudem existiert kein anerkanntes System von Sanktionen, mit dem Verstöße gegen die Regeln geahndet werden können. Wer Sanktionen in welcher Form durchsetzen darf, ist ebenfalls strittig.
Trotzdem gibt es für die Netzteilnehmer verschiedene Möglichkeiten, auf das Verhalten anderer Einfluß zu nehmen. Beim IRC können die Operatoren eines Kanals unerwünschte Teilnehmer mit aus dem Kanal entfernen, die Betreiber eines IRC-Servers können sogar die Verbindung zum Server unterbrechen. Allerdings kann niemand einen so Zurechtgewiesenen daran hindern, die Verbindung erneut aufzubauen.
Im Usenet können Sanktionen aber besonders wirkungsvoll sein. Da die Absenderadresse in einer Nachricht enthalten ist, können ,,Replys``, d.h. direkte E-Mails von unter Umständen Tausenden empörter Leser viel Arbeit mit einer übervollen Mailbox bedeuten. Bei Anbindung über kommerzielle Anbieter hat derartiges ,,Mailbombing`` für den Empfänger auch finanzielle Folgen, da der eingehende Verkehr ebenfalls bezahlt werden muß.
Als weniger aggressive Reaktion bietet sich die Möglichkeit, nichtakzeptiertes Verhalten zu ignorieren. Mit Hilfe eines ,,killfiles`` können Newsreader dafür sorgen, daß Postings bestimmter Absender nicht mehr angezeigt werden.
Zwar besteht die Möglichkeit, die Systemverwalter des Absenders zu informieren, doch ob diese geneigt sind, jemanden für irgendein Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen, ist fraglich. Entsprechende Reaktionen von Systemverwaltern, die sich für das Benehmen ihrer Nutzer nicht verantwortlich fühlen, hat es bereits gegeben.
Auch wenn in den vorhergehenden Abschnitten immer zwischen ,,virtueller`` und ,,realer`` Kommunikation unterschieden wurde, ist CMC nicht völlig getrennt vom realen Leben, sondern kann zu verschiedenen Rückwirkungen auf das Verhalten in einer ,,realen`` Umgebung führen.
Welchen Einfluß CMC auf die face-to-face Kommunikation besitzt, ist zwiespältig. Einerseits bietet CMC für Menschen mit Kommunikationsproblemen ein Medium, in dem soziale Fähigkeiten in einer weniger bedrohlichen Umgebung erlernt werden können. Schüchterne, introvertierte oder durch Aussehen oder körperliche Gebrechen sozial benachteiligte Menschen können so aus ihrer Isolation ausbrechen und ohne Angst vor Fehlern oder vorschnellen Urteilen mit anderen kommunizieren.
Andererseits kann aber auch die Kommunikation mit anderen, die sich eben nicht für die gleichen Themen interessieren, unter der Beschäftigung mit dem Kommunikationsmedium Internet leiden. Wenn man in den NetNews mit Gleichgesinnten hervorragend diskutieren und sich unterhalten kann, so wird einem unter Umständen der Smalltalk mit Menschen, bei denen eine derartige gemeinsame Gesprächsbasis fehlt, schwerfallen.
Ebenso ist der oft zitierte Vorwurf der zunehmenden Isolation der Netznutzer fragwürdig.
Unbestritten ist, daß die Beschäftigung mit diesem Medium sehr viel Zeit kostet, die somit für soziale Beziehungen nicht mehr zur Verfügung steht. Besonders die Möglichkeiten von MUDs und IRC können zu langen ,,Sitzungen`` verführen.
Einen derartigen Vorwurf kann man jedoch auch dem Medium ,,Fernsehen`` machen, das durch den rein passiven Konsum und die völlig fehlende Kommunikation sehr viel eher zu sozialer Isolation führen kann.
Das Internet dagegen bietet die Möglichkeit zu aktiver Kommunikation, auch wenn diese ,,nur`` über Datenleitungen stattfindet.
Durch den schnellen und unkomplizierten E-Mail-Dienst können Kontakte zu alten Freunden oder Bekannten über lange Entfernungen einfach und kostenlos/-günstig aufrechterhalten werden.
Die NetNews bieten in den verschiedenen Diskussionsgruppen die Möglichkeit, sehr einfach neue Kontakte zu knüpfen und eine Vielzahl von Meinungen kennenzulernen. Die Vielfalt der verschiedenen Argumente erlaubt so eine fundiertere eigene Meinungsbildung und verhindert so vorschnelle Urteile. Auch Diskussionen außerhalb der NetNews können dadurch profitieren. Die Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und ein bekanntes soziales Umfeld zu verlassen, kann nach Meinung von M. Hauben [22] zu mehr Toleranz und Offenheit für die Ansichten anderer führen.